Acht Lesungen

  mit Adelbert-von-Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträgern der Robert Bosch Stiftung



Fremd sein...
 

Vladimir Vertlib
Einführung
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Professor Pröpstls Puppentheater, Freitag, 10. 06. 05

 
Marica Bodrozic
Yoko Tawada
Adel Karasholi
Zehra Çirak
Selim Özdogan
Vladimir Vertlib
Catalin D. Florescu
Francesco Micieli



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Tragische Geschichten mit Humor gewürzt

Aspach Die Lesereihe "Fremd sein . . .", die vom Kunstverein
Aspach und Professor Pröpstls Puppentheater präsentiert wird,
findet immer größeren Anklang. Im gut gefüllten ehemaligen
Löwen in Großaspach zog der Autor Vladimir Vertlib das Publi-
kum mit Auszügen aus seinen Romanen "Zwischenstationen",
"Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur" und "Letzter
Wunsch" in seinen Bann.

Der in der UdSSR geborene Vladimir Vertlib ist nun schon der
sechste Adelbert-von-Chamisso-Preisträger, der in Professor
Pröpstls Puppentheater präsentiert wurde. Der Literaturpreis
wird von der Robert-Bosch-Stiftung an deutschsprachige
Autoren verliehen, die mit einer anderen Sprache aufgewachsen
sind. "Die Einwanderer bereichern und verändern die deutsche
Literatur", sagte Frank Albers von der Robert-Bosch-Stiftung,
der an diesem Abend die Einführungsrede hielt. Albers informie-
rte über den Chamisso-Preis und stellte den Autor vor.

Der heute in Salzburg lebende Vladimir Vertlib wurde 1966 in
Leningrad geboren. Im Alter von fünf Jahren emigrierte er mit
seiner jüdischen Familie nach Israel. 1972 siedelte die Familie
nach Österreich über. Weitere Stationen der Emigration waren
die Niederlande, Italien und die USA, bis sich die Familie
schließlich endgültig in Österreich niederließ. Vertlib hat das
Fremdsein von Kindheit an kennen gelernt. In seinem Roman
"Zwischenstationen" reflektiert er die eigene Lebensodyssee,
getrieben von einem Vater, der immer auf der Suche nach
einem idealen Land war. Es sind fiktive, aber autobiographisch
beeinflusste Geschichten über Stationen der Emigration.

Der Ausschnitt, den er bei der Lesung vorträgt, handelt von
einer russisch-jüdischen Familie, die nach Wien übersiedelt.
Die Mutter, die Physik und Mathematik studiert hat, bekommt
zunächst eine Stelle als Putzfrau in einer Versicherungsgesell-
schaft. Den sechsjährigen Sohn, für den sie Nachmittags keine
Betreuung hat, muss sie zur Arbeit mitnehmen. Mit viel Ironie
beschreibt der Autor aus der Sicht des Jungen, wie er diese
Aufenthalte in dem Versicherungsgebäude erlebt. Da gibt es
nicht nur unter dem Büropersonal eine klare Hierarchie, sondern
auch in der Putzkolonne. Ebenso wie es einen Herrn Doktor
oder Herrn Prokurist gibt, der übrigens vom Personal "Groß-
schädling" genannt wird, lässt sich die Leiterin der Putztruppe
mit "Frau Chefputzfrau" anreden. Eigentlich ist sie Österreiche-
rin, aber mit ihren ausländischen Untergebenen spricht sie in
gebrochenem Deutsch: "Kind darf hier nicht bleiben, Kind muss
weg." Die Kunst des Autors ist es, den beschwerlichen Alltag
der Emigranten auf liebenswürdige, humorvolle Weise zu
erzählen.

In dem Roman "Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur"
beschreibt die über 90-jährige Protagonistin ihre Lebensge-
schichte. Sie erinnert sich an ihre Kindheit, die Zeit der
Revolution, den Weltkrieg und den Terror der Stalinzeit.
Grundlage für den Roman waren die Erzählungen seiner
Großmutter, die in Leningrad geblieben ist und seine Familie
Ende der 80er Jahre besuchte, verrät der Autor. Vertlib nahm
Audiokassetten von ihren Berichten auf, die er erst 10 Jahre
später als Grundlage für einen Roman benutzte. Es handelt
sich bei dem Buch um fiktive Geschichten mit realem Funda-
ment, so der Autor. Vertlib trägt eine Passage vor, die von
Rosas Problemen mit ihrem Sohn handelt. Der Junge ist frech,
bekommt Schreianfälle und weigert sich schließlich zu essen. In
ihrer Verzweiflung konsultiert die Mutter einen Kinderarzt, der
merkwürdige Fragen stellt und schließlich eine Hexe, die ein
Gleichnis zu erzählen weiß. Gekonnt arbeitet der Autor in
diesem Textausschnitt mit Symbolen, durch die deutlich wird,
wo die Ursache der Probleme des Jungen wirklich liegen.

In seinem jüngsten Roman "Der letzte Wunsch" setzt sich
Vertlib mit seiner jüdischen Identität und dem Antisemitismus
in Österreich auseinander. In der Leseprobe, die von einer
Auseinandersetzung auf dem Wiener Westbahnhof handelt,
klagt er nicht an, sondern erzählt die Begebenheit auf äußerst
humorvolle Weise.

Vladimir Vertlib, der auch an Schulen las - bei seinem Besuch
im Beruflichen Schulzentrum in Backnang waren rund 100
Schüler bei der Lesung - bot dem Publikum Textausschnitte
zum Nachdenken und zum Schmunzeln. Ein Autor, dem es
gelingt, tragische Geschichten auf ironische und humorvolle
Weise zu erzählen.

Backnanger Kreiszeitung, 15. Juni 2005